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Wie funktioniert ein Magazin ohne Chefredakteur? Und können Gehaltsverhandlungen im Team gelingen? Das erklärt Lena Marbacher, Co-Gründerin von Neue Narrative.

Das Berliner Wirtschaftsmagazin Neue Narrative (NN) schreibt nicht nur dreimal im Jahr über die neue Arbeitswelt, sondern lebt sie auch selbst. Co-Gründerin Lena Marbacher hat als Organisationsberaterin Unternehmen dabei geholfen, selbstorganisiert, demokratischer, gerechter zu werden – Prinzipien, die nun auch den Redaktionsalltag bestimmen. Das 2017 gegründete Medium finanziert sich etwa zur Hälfte über die 16.000 Abonnent:innen, der Rest wird mit B2BGeschäften erwirtschaftet, etwa durch den Verkauf von Lizenzen für eine digitale Tool-Plattform.

Neue Narrative arbeitet mit dem Holacracy-Modell, das Hierarchien abbaut und mehr Agilität ermöglicht. Ein wichtiger Baustein ist das Rollenmodell. Was ist der Unterschied zwischen einer klassischen Stellenbeschreibung und einer Rolle?

Eine Stellenbeschreibung ist immer viel gröber gefasst. Da sind tausende kleine Aufgaben drin. Rollen beschreiben viel detaillierter: Wofür genau ist die Person verantwortlich? Eine Rolle hat immer einen Purpose, also einen Daseinsgrund. Bei der Rolle „Social Media“ steht bei uns als Purpose: „NN hat die besten, schönsten und interessantesten Social-Media-Channels der Welt.“ Das formulieren die Leute so, wie es sie motiviert. Die Accountabilities oder Verantwortlichkeiten sind: „Macht hammermäßigen Content aus allen NN-Produkten, achtet auf eine gute Mischung der Themen auf den Kanälen, überlegt sich neue Formate.“ Wer eine bestimmte Rolle hat, trifft auch die Entscheidung – aber welche Person die Rolle übernimmt, das kann sich ändern.

Wer entscheidet, ob jemand eine bestimmte Rolle übernimmt?

Anders als beim klassischen Holacracy-Modell entscheiden wir das im Team: Eine Person kann sich zum Beispiel selbst für eine Rolle vorschlagen oder wird vorgeschlagen. Wir besprechen das dann entweder im Team gemeinsam, oder eine Führungsrolle bespricht das mit der Person, die die Rolle ausfüllen könnte. Außerdem wird im Team gefragt, ob es Einwände gibt. Aber auch bei der Selbstorganisation gibt es Schlupflöcher. Wenn zum Beispiel die Gründerinnen und Gründer, die historisch schon immer viel Macht hatten, als Erste einschätzen, wer kompetent ist, dann werden sich vermutlich andere an ihnen orientieren, und es wird sich tendenziell weniger an alten Machtstrukturen ändern.

Ihr verhandelt Gehälter transparent im Team. Kann das wirklich funktionieren?

Das wichtigste Learning in über fünf Jahren selbstbestimmter Gehälter ist: Es ist nie perfekt und ideal. Über das individuelle Gehalt mit dem Team zu diskutieren, wird immer unangenehme Gefühle auslösen, weil unsere Sozialisierung mit Geld schambehaftet und zugleich identitätsstiftend ist. Dessen sollte man sich bewusst sein, bevor man damit anfängt. Man sollte im Team ein großes Vertrauensverhältnis und eine hohe Konfliktkompetenz haben. Wir haben übers Jahr verteilt Workshops zum Thema Geld und Gehalt. Und wir fangen den Prozess schon Ende September an, um mehr Zeit für individuelle Gespräche zu haben.

Jede:r macht einen Vorschlag auf Basis eines Fragenkatalogs: Diese Rollen hatte ich, dahin möchte ich mich entwickeln, ich pflege meinen Vater, ich bin alleinverdienend etc. Aufgrund dieses Vorschlags gibt es Feedback von allen Mitarbeitenden oder – ab einer gewissen Größe des Unternehmens – des Teams.

Wie vermeidet ihr Neiddebatten?

Es entstehen Neid und Ego-Gefühle! Deswegen wird es auch emotional und unangenehm. Wir müssen uns als Gesellschaft aber mehr und offener mit der Verteilung von Geld und Vermögen auseinandersetzen. Im Fragenkatalog fragen wir: Was ist das Minimum? Was wäre dein liebstes Maximum? Wie viel ist genug? Wenn wir über Geld nachdenken, denken wir an mehr. Wann der Deckel erreicht ist, darüber reden wir nicht.

Die Neuen Narrative zeichnen sich auch durch die Eigentümerstrukturen aus. Ihr befindet euch in Verantwortungseigentum – was bedeutet das?

Wir sind offiziell eine GmbH, die NN Publishing GmbH, haben aber eine Mitarbeiter:innen-Gesellschaft bürgerlichen Rechts, eine GbR, die 99 Prozent der Stimmrechte an der GmbH hält. Diesen Rechtsform-Hack kennt man als Verantwortungseigentum, auch wenn das noch keine offizielle Rechtsform in Deutschland ist. Der Hack hat zur Folge, dass die Stimmrechte nicht bei uns als den Gesellschafter:innen oder bei Investor:innen liegen, sondern in der GbR. Damit haben wir versucht, die Macht über das Unternehmen vom Geld zu trennen. Die Purpose Stiftung als Kontrollgesellschafterin hat mit einem Prozent einen VetoShare, um Verkäufe und übermäßige Gewinnausschüttungen zu verhindern.

Hier geht's zum Download:

Medien-Innovationsreport 2022

Lena Marbacher ist promovierte Designerin, Organisationsentwicklerin und Co-Gründerin von Neue Narrative.

Foto: Claudio Rimmele