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Das Internet der Zukunft wird geprägt sein von immersiven Erlebnissen, neuen Formen der Interaktion und hybriden Technologien. Wie sollen sich Medienhäuser der Metaverse-Zukunft nähern?

Wir wissen nicht, wie das Metaverse genau aussehen wird. Auch nicht, wann genau es kommen wird. Die technische Infrastruktur existiert erst in Ansätzen, und allein die erforderlichen Rechenleistungen übersteigen alles, was heutige Computer zu liefern imstande wären. Und doch scheint klar, dass die technische und ökonomische Entwicklung darauf zusteuert: Das Metaverse wird der nächste große Schritt in der Mediengeschichte sein und die Ära des mobilen Internets ablösen. Und es wird ein großes Geschäft sein.

Gehen wir nach der Definition des Digitalstrategen und Autors Matthew Ball, so wird das Metaverse aus riesigen in Echtzeit gerenderten und miteinander vernetzten 3-D-Welten bestehen, die synchron von Millionen von Menschen auf immersive Weise erlebt werden können. Benutzer: innen werden in diese Welt als Avatare einsteigen und noch stärker in direkten Austausch mit anderem User: innen treten, als es heute der 78 Fall ist. Der Content oder auch die „Erfahrungen“ werden von einer enormen Zahl unterschiedlichster Produzenten kommen – von den bekannten Tech-Giganten genauso wie von völlig unabhängigen Individuen. Genau hier stellt sich zwangsläufig die Frage: Welche Präsenz werden News-, Entertainment- und Kulturmedien im Metaverse haben? Welche Inhalte werden gefragt sein, und wer wird sie bauen?

DER MEHRWERT ZÄHLT

„Ich bin der festen Überzeugung, dass es fast alle heutigen Medientypen auch während der Metaverse-Ära weitergeben wird – vom Printmagazin über das Fernsehen bis zum Mobiltelefon“, schickt Hannes Kaufmann, Professor für Virtual und Augmented Reality (VR und AR) an der TU Wien, voraus. „Jedes Medium wird für genau den Zweck verwendet werden, wo es den größten Mehrwert liefert.“ In vielen Fällen werde es wahrscheinlich zu einer Verschmelzung.” einzelner Medienformate sowie zu einer interoperablen Verknüpfung unterschiedlicher Gerätetypen kommen, so Kaufmann. „Man muss auch immer das leichte Wechseln zwischen verschiedenen Devices im Alltag mitdenken. Man kann 3-D-Darstellungen ja auch sehr gut flach auf dem herkömmlichen Computerscreen ansehen. Aber die User:in wird – wenn es die Gelegenheit erlaubt – auch eine VR-Brille aufsetzen und in die andere Ansicht hinüberswitchen können.“

Das Metaverse erneuert womöglich auch vergessene Formate menschlicher Organisation.

Kaufmann sieht grundsätzlich zwei große Unwägbarkeiten auf dem Weg ins Metaverse: Zum einen sei unklar, wann die Rechenleistungen der Computer und Grafikkarten tatsächlich stark genug sein werden, um solch enorme 3-D-Welten für Millionen von Nutzer:innen in Echtzeit erzeugen zu können. Zum zweiten sei die Industrie noch Jahre von einer sinnvollen Einigung auf Metaverse-Standards entfernt. „Im Moment ist es so, dass jede große Tech-Firma an ihrem eigenen Metaverse bastelt. Jede will eine Führungsrolle einnehmen und für sich möglichst viel vom Kuchen.“ Doch die Durchlässigkeit – um also den User:innen ein Springen zwischen Welten mit nur einer Identität zu ermöglichen – gilt als eine der Voraussetzungen für die Popularisierung des Metaversums.

Auf Medienhäuser kommt laut Kaufmann noch eine dritte Herausforderung zu: „Die Produktion von 3-D-Content ist teuer. Für jede Geschichte, die man erzählen will, braucht man 360-GradVideos oder digitale 3-D-Modelle – die Herstellung ist also sehr personal-, zeit- und kostenaufwendig. Deshalb stecken auch wir an der TU schon viel Forschung in die Frage: Wie können wir rascher und automatisiert 3-D-Inhalte produzieren? Wir probieren das zurzeit etwa mit einem Roboter-Hund, der Gebäude erkundet und 3-D-Modelle davon erstellt.“

VOR DEM GOLD RUSH

Wie Matthew Ball sagt: Es wird keinen „Flip“ geben, nach dem wir uns von einem Tag auf den nächsten in der Ära des Metaverse wiederfinden werden. Die Serie der technischen Entwicklungen, der ökonomischen Entscheidungen und der sozialen Prozesse drumherum, die langsam das Metaverse erzeugen werden, ist unüberschaubar und unplanbar. „Medienhäuser müssen sich in dieser Situation entscheiden: Wann und in welchen Bereichen wollen wir beginnen zu investieren?“, so TU-Professor Kaufmann. Er sieht einen realistischen „Low Entry Point“ in der Produktion von 360-Grad-Videos, die man bei manchen Storys – etwa über ein kulturelles Event – „einfach mal dazu produzieren und den Leser: innen mitliefern könnte“. Außerdem hält Kaufmann eine baldige Popularisierung von ARBrillen für möglich – sobald die Produkte von ihrer Größe und Ästhetik her im Alltag getragen werden können, ohne sich lächerlich zu machen. Kaufmann: „Man geht durch die Stadt und kann währenddessen in seinem natürlichen Blickfeld News checken, aber auch nützliche Informationen über die Umgebung bekommen. Natürlich wäre diese Anwendung in der Anfangszeit vor allem für Werbung attraktiv: Man stelle sich vor, wie über Geschäftslokalen, denen man sich nähert, animierte Sonderangebote aufpoppen.“

 

LUDISCHE MOMENTE

Es ist dieser spielerische Aspekt im Umgang mit realen und virtuellen Räumen, der Margarete Jahrmann am Metaverse besonders fasziniert. Die Medienkünstlerin und Kunsttheoretikerin leitet an der Wiener Universität für angewandte Kunst die Abteilung für „Experimental Game Cultures“. „Das ludische Element unterscheidet das Metaverse vom heutigen Internet“, erklärt Jahrmann. „Sich in den Räumen des Metaversums zu bewegen wird bedeuten, mit anderen User:innen ständig Spielregeln auszuhandeln, damit der soziale Raum überhaupt erst entsteht.“ Und dann ist da noch Ilinx. „Ilinx ist ein Begriff aus der Ludologie, der Spiellehre. Er beschreibt einen Spielrausch, der durch ein starkes körperliches Empfinden entsteht. So wie sich Kinder im Kreis drehen, um schwindlig zu werden.“ Dieses Element hätten wir im heutigen Internet nur in leichten Ansätzen, sagt Jahrmann. Im Metaverse werde es aber allgegenwärtig sein: „Jetzt stehen wir an der Schwelle: Wollen wir diesen körperlichen Rausch in unser tägliches Medienverhalten integrieren? Die Frage wird wohl sein, welche Momente werden wir kreieren, in denen wir den Ilinx-Aspekt sinnvoll finden?“

Wie verändern sich meine Kategorien vom Selbst und von Grenzen zwischen mir und dem anderen?

Element hätten wir im heutigen Internet nur in leichten Ansätzen, sagt Jahrmann. Im Metaverse werde es aber allgegenwärtig sein: „Jetzt stehen wir an der Schwelle: Wollen wir diesen körperlichen Rausch in unser tägliches Medienverhalten integrieren? Die Frage wird wohl sein, welche Momente werden wir kreieren, in denen wir den Ilinx-Aspekt sinnvoll finden?“

Wie sich Medienerlebnisse durch diese körperliche Komponente der Virtual-Reality-Technologien grundlegend verändern können, erforscht das Kollektiv BeAnotherLab mit Sitz in Barcelona seit rund zehn Jahren in seinen künstlerisch-wissenschaftlichen Installationen – wie der „Machine To Be Another“, die es zwei Menschen erlaubt, ihre Körper spielerisch zu switchen. Beide tragen VR-Headsets und eine nach vorn gerichtete Kamera. Jede Person sieht in ihrer VR-Brille, was die Kamera der anderen Person filmt. Der Blick wird also getauscht. Bewegen sich die beiden aufeinander zu, berühren sie die Hände der anderen als die „ihren“ – das Hirn interpretiert die fremde Perspektive im VR-Bild wider besseres Wissen als die eigene. „Wir bauen Technologien für neue Methoden des Storytellings, immer mit dem Interesse, besondere Verbindungen zwischen Menschen herzustellen“, sagt Norma Deseke, Kulturanthropologin und Mitglied von BeAnotherLab. „Unsere Forschungsfrage ist: Wie verändern sich meine Kategorien der Selbstdefinition und Grenzen zwischen mir und dem anderen?“ EMPATHIEMASCHINE METAVERSE?

Einen journalistischeren Zugang hat das Setup „Library of Ourselves“, für das BeAnotherLab Menschen in krisenhaften Lebenssituationen bittet, ihre Geschichte aus First-Person-Sicht zu erzählen – gefilmt mit einer 360-Grad-Kamera vor dem Kopf. Das Ergebnis wird mit VR-Brille betrachtet, und „taktile Assistent:innen“ helfen beim immersiven Erlebnis, für zehn Minuten die verkörperte Perspektive einer anderen Person zu übernehmen. „Diese Body-Transfer-Illusionen sind glaubhaft und sehr intensiv. Ich würde allerdings nicht so weit gehen zu sagen, dass wir dadurch bei den Betrachter:innen automatisch ‚mehr Empathie‘ – etwa für marginalisierte Menschen oder Kriegsflüchtlinge – erzeugen können. Es gibt derartige, oft fantastische Vorstellungen in der Tech-Szene, aber ich teile sie nicht. Empathie entsteht nicht durch Knopfdruck. Ohne persönliche Involvierung und emotionale Arbeit aller Beteiligten, also nur durch die Technik selbst kann kaum Empathie entstehen.“

Das Hybride zieht uns an, weil wir unseren Körper behalten, uns abertrotzdem in andere Welten bewegen können. 

 

Der menschliche Faktor am Metaverse bleibt ungewiss und rätselhaft. Niemand kann die sozialpsychologischen Dynamiken vorhersagen, die sich in dieser neuen Internet-Ära entwickeln werden. „Ich sehe in den größeren sozialen Räumen, die dort entstehen, durchaus eine Chance“, bleibt Margarete Jahrmann grundsätzlich optimistisch. „Die Mediengeschichte ist nicht linear, sondern verläuft in Wellenbewegungen. Alte Formate tauchen in neuen Settings wieder auf. Das Metaverse erneuert womöglich auch vergessene Formate menschlicher Organisation. Das gemeinsame Erleben anderer Weltvorstellungen könnte auch kathartische Effekte haben, das Gemeinschaftsgefühl intensivieren.“

AALGLATTE TECHNIK

Das Metaverse wird zu groß sein, schreibt Matthew Ball, um von den großen Tech-Konzernen komplett dominiert zu werden. Unabhängige Open-Source-Projekte würden sicher eine große Rolle spielen und wahrscheinlich sogar zu den kreativen Treibern gehören. „Es wird immer Lücken geben für alternative Räume“, stimmt dem auch Norma Deseke zu. Man sollte sich auch nicht heute schon von zu glatten Ankündigungen von Meta abwärts täuschen lassen:  82 Margarete Jahrmann ist Medienkünstlerin und leitet die Abteilung für Experimental Game Cultures an der Universität für angewandte Kunst Wien. „Es gibt immer ein Interesse der Industrie, uns das Metaverse und die damit verbundene Technologie als faltenfreie, perfekt funktionierende und  immer verfügbare Tatsache zu verkaufen. In der Realität funktioniert Technologie so aber nie. Für mich bedeutet Technik, zumal wenn sie neu ist, immer auch jede Menge Klebeband.“

Die realistischste Vision des Metaverse ist dementsprechend eine, bei der die echte, die physische Welt die meiste Zeit „durchscheint“, sie also mit spielerischen Elementen angereichert statt überdeckt wird. „Es wird wohl auf hybride Formen hinauslaufen“, sagt Jahrmann. „Der ‚Traum‘ des komplett abgekoppelten und körperlosen zweiten Lebens erscheint mir nicht wünschenswert. Das Hybride zieht uns eher an, weil wir uns zu Hause fühlen, unseren Körper behalten, uns aber trotzdem in andere Welten bewegen können. Es geht doch um ein erweitertes soziales Erleben. Und das soll andere Menschen und Dinge in meine Welt hereinholen, nicht mich aus meiner Welt hinausziehen.“

Die Medienbranche wird die anstehenden Aufgaben nur gemeinsam bewältigen können.

Martin Fleischhacker Geschäftsführer der Mediengruppe Wiener Zeitung

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Medien-Innovationsreport 2022