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Drei von vier Österreicher:innen verzichten zumindest zeitweise bewusst auf Nachrichten.
Das ist aus mehreren Gründen problematisch: Wer In-halte nicht konsumiert, wird erst recht nicht dafür bezahlen. Und wenn Bürgerinnen über politische Vorgänge nicht informiert sind, verliert das demokratische System eine wesentliche Voraussetzung. Borchardt verweist auf US-amerikanische Studien, die zeigen: In Regionen, in denen lokale Tageszeitungen schließen mussten, sinkt in der Folge die Wahlbeteiligung, nimmt die Verschwendung in der öffentlichen Verwaltung zu, und Städte, die Anleihen begeben, müssen für diese höhere Zinsen bezahlen. Das Mediensterben kommt die Steuerzahler: innen teuer zu stehen.
Ein neues Gespenst geht um in der Medienbranche. Es nennt sich „News Avoidance“ und ist „vermutlich das derzeit wichtigste The-ma in der Medienwelt“, wie Thomas Baekdal sagt, inter-national tätiger Medienberater aus Dänemark. Immer mehr Menschen verzichten bewusst darauf, Nachrichten zu konsu-mieren. Die Medien scheinen Teile der Gesellschaft schlicht nicht mehr zu erreichen. „Ich halte die Aufmerksamkeits-krise der Medien für deutlich wichtiger als die Vertrauenskri-se“, sagt auch Alexandra Borchardt, Autorin, Beraterin und Forscherin. Das Reuters Institute for the Study of Journalism hat im „Digital News Report 2022“ herausgefunden, dass 75 Prozent der erwachsenen Österreicher: innen zumindest hier und da aktiv Nachrichten vermeiden. Auch das Austrian Corona Panel kam auf rund 70 Prozent von gelegentlichen Vermeidern. In den meisten Ländern ist eine Zunahme des Phänomens zu beobachten. Unter jüngeren Menschen ist es stärker ausgeprägt. „Alleine dadurch wird es in Zukunft noch wichtiger werden“, so Borchardt. Auch der Anteil jenner, die an Nachrichten „sehr“ oder „extrem“ interessiert sind, ist in vielen deutlich Ländern gesunken – in Deutschland von 74 Prozent (2015) auf heuer 57 Prozent.
Für Medien ist das ein Alarmsignal – sie müssen mehr auf die Bedürfnisse ihrer User:innen eingehen.
„DAS THEMA BOOMT“
Svenja Schäfer, Postdoc in der Political Communication Research Group der Universität Wien, weist jedoch auf eine wesentliche Unterscheidung hin: Nur eine absolute Minderheit nutzt Nachrichten gar nicht mehr. Laut dem „Digital News Report“ gaben in den USA immerhin 15 Prozent, in Deutsch-land aber nur 5 Prozent an, in der vergangenen Woche keine Nachrichten konsumiert zu haben. Viele Menschen le-gen andererseits manchmal eine bewusste Pause vom Nachrichtenkonsum ein – was durchaus vernünftig sein kann. „Diese aktive Nachrichtenvermeidung nimmt zu“, so Schäfer. „Auch die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen, die sich damit beschäftigen, ist in den vergangen vier, fünf Jahren stark angestiegen. Das Thema boomt.“ Das Phänomen ziehe sich durch die gesamte Gesellschaft und beschränke sich nicht auf bestimmte Gruppen, erklärt die Forscherin. Oft sei-en es gerade intensive Mediennutzer: innen, die hie und da eine Pause einlegen: „Die Vermeidung von Nachrichten hängt nur schwach mit dem Ausmaß der Nachrichtennutzung zusammen.“
„DIE MENSCHEN KÖNNEN MIT DEN NACHRICHTEN NICHTS ANFANGEN“
Die Demokratie scheint also doch nicht so akut gefährdet zu sein. Ein Alarmsignal ist die Nachrichtenvermeidung alle-mal. „Die Menschen sind unzufrieden mit den Medien, sonst würden sie die Pause nicht benötigen“, meint Schäfer. Aber warum sind sie unzufrieden? „Hauptsächlich, weil die Nach-richten schlechte Laune machen“, sagt Autorin Borchardt. Kein Wunder, liegt der Fokus doch meist auf negativen Ereignissen. „Manche empfinden die Nachrichten zudem als vor-eingenommen. Und was in der aktuellen Zeit eine große Rolle spielt: Wenn in einer Krise – sei es Corona oder der Ukraine-krieg – ständig über dieses eine Thema berichtet wird, fühlen sich die Menschen von der Fülle erschlagen.“ Als Ende Februar die Ukraine angegriffen wurde, bemerkten viele Online-Medien einen Rück-Gang der Zugriffe. Borchardt: „Da kommen Ängste zum Vor-schein, man fühlt sich ohnmächtig, man hat das Gefühl, man kann nichts dagegen tun.“ Berater Baekdal hat für Medienhäuser Leserumfragen durchgeführt. Eine Frage war: Sind unsere Nachrichten für Menschen wie Sie gemacht? „Die Antworten waren schrecklich“, erzählt der Däne. „Normalerweise haben weniger als 10 Prozent zugestimmt. Der Journalist: innen machen also nicht den Eindruck, ein Teil der Community zu sein.“ Das hat auch mit der Wahl der Themen zu tun. Wird über lokale Ereignisse berichtet, die für die Menschen relevant sind? „Manchmal weiß ich nicht, ob ich eine dänische oder eine amerikanische Zeitung in der Hand halte“, so Baekdal. „Außerdem haben wir eine verrückte Tradition, vor allem über Dinge zu berichten, die wir nicht ändern können. Das heißt, dass die Menschen mit den Nachrichten nichts anfangen können.
Wenn die Menschen nach dem Nachhrichtenkonsum verwirrter sind als davor, dann haben wir versagt.
JOURNALISMUS, DER HILFT
Auch Baekdal zieht das Fazit: Die Medien geben den Menschen nicht das, was sie wollen. Es brauche ein neues Mindset: „Journalist: innen denken nicht ausreichend über die Situation der Leser: innen nach, für die sie schreiben.“ Der Journalismus müsse Antworten und Lösungen bieten, den Menschen helfen. Wenn ein Schneesturm passiert, interessieren die User: innen nicht nur meteorologische Fakten, sondern auch Fragen wie: Wie stelle ich meine Stromversorgung wieder her? Früher gab es in Fitness-Magazinen ein-fach eine Menge Artikel zum Lesen. Heute geht es nicht mehr ohne Trainingsanleitungen. Dieser Schritt vom Passiven zum Aktiven sei auch für andere Themen relevant: Wie kann ich persönlich mich auf eine Erwärmung des Klimas vorbereiten? Doch was ist mit komplexen, politischen Themen, bei denen individuelle Lösungen eine geringere Rolle spielen? „Auch hier erledigen die Me-dien nur die Hälfte ihres Jobs“, sagt Baekdal. „Wenn die Menschen nach dem Nachrichten-konsum verwirrter sind als da-vor, dann haben wir versagt.“ Die Medien müssten ihr eigenes Angebot kritisch über-prüfen, meint auch Borchardt: „Den klassischen Funktionärsjournalimus – er hat gesagt, sie hat gesagt – finden viele unspannend. Manchmal schreiben Journalist: innen vor allem, um ihr Kolleg: innen zu beeindrucken. Das sollten wir weglassen.“ Wenn zwei Personen interviewt werden und sich wider-sprechen – dann schafft die Verwirrung. „Hier darf der Journalismus nicht stehenbleiben“, fordert Baekdal. „Wir müssen den nächsten Schritt machen. Wir müssen die Fakten checken. Wir müssen eine weitere Perspektive einnehmen und eine Zusammenfassung erstellen, das, big picture‘ erklären. Das sind alles Dinge, in denen wir noch sehr viel besser werden müssen.“
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Foto: Schäfer
Svenja Schäfer forscht an der Universität Wien.

Foto: _Jacobia Dahm
Alexandra Borchardt ist Autorin, Beraterin und Forscherin.