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Im Strom der kurzen Videos

Von Clemens Stachel.

Die Videoplattform TikTok hat die Welt im Sturm erobert. Die App öffnet ein Tor zur Jugendkultur. Viele Unternehmen und Medien ziehen jetzt nach und fragen sich: Wie erreicht man eine Zielgruppe, die am Smartphone zu Hause ist?

Die Welt der sozialen Medien dreht sich manchmal rasant wie ein Karussell: Was vor gerade einmal drei Jahren noch ein Nischenmedium für Teenager war, ist heute eine der mächtigsten Plattformen im Internet: TikTok. Über eine Milliarde Nutzerinnen und Nutzer hat TikTok heute weltweit – und liegt damit nur noch knapp hinter Instagram. Im Kampf der Social-Media Titanen führt Facebook mit 2,9 Milliarden Userinnen und Usern das Beliebtheitsranking noch immer deutlich an.

GETEILTE WOHNZIMMER

Was TikTok von anderen großen Netzwerken unterscheidet: Hier teilen die Nutzerinnen und Nutzer keine Texte, keine Fotos, keine  Links zu Websites, sondern ausschließlich Videos – kurze Videos, um genau zu sein. Vom süßen Haustier-Clip zum hölzernen Tanzversuch im Wohnzimmer, vom halsbrecherischen Sportvideo zur Comedy-Einlage, vom Schminktipp-Video zum Reisebericht  die Palette der hochgeladenen Videos ist so vielfältig wie das Leben selbst. Angesehen werden die oft nur wenige Sekunden kurzen und stets hochformatigen Clips idealerweise am Smartphone, nicht auf großen Computerbildschirmen. Die simple Handhabung – einfach nach oben wischen zum nächsten Video – trägt das ihre zum Suchtfaktor bei.

Darüber hinaus unterscheidet sich TikTok von seinen Konkurrenten durch seine Herkunft: Anders als Facebook, Instagram oder YouTube kommt es nicht aus den USA, sondern aus China. Dort wurde das Netzwerk im Jahr 2016 vom Unternehmen ByteDance unter dem Namen „Douyin“ vorgestellt. Ein Jahr später kam dann die internationale Version heraus: TikTok. Während des ersten Jahres der Corona-Pandemie startete TikTok so richtig durch: Allein im ersten Halbjahr 2020 wurde die App auf mehr als 500 Millionen Handys weltweit heruntergeladen – und zum Inbegriff einer globalisierten digitalen Jugendkultur. Mittlerweile ist TikTok im Alltag von Kindern und Jugendlichen allgegenwärtig: 70 Prozent der 11- bis 17-Jährigen in Österreich verwenden die App. Auch bei jungen Erwachsenen (18 bis 24 Jahre) wird die Plattform immer populärer – immerhin 47 Prozent dieser Altersgruppe haben die App auf ihrem Smartphone. Jenseits der 40 hingegen interessiert sich gerade mal jede und jeder Zehnte für diesen Landstrich der Social-Media-Welt. Kein Wunder also, dass TikTok als das Medium der „Generation Z“ bei vielen Unternehmen besonderes Interesse hervorruft. Denn wer seine Produkte und Dienstleistungen bei der wichtigen Zielgruppe der unter 30-Jährigen erfolgreich anpreisen möchte, muss sich zwangsläufig auch über eine Präsenz auf TikTok Gedanken machen.

„TikTok ist mittlerweile im Mainstream angekommen“, analysiert die Kommunikationsstrategin Ingrid Gogl die aktuelle Entwicklung. „Längst lassen sich nicht nur Teens, sondern auch viele 30- bis 40-Jährige gerne von TikTok unterhalten. Und da es in vielen Unternehmen Menschen dieser Altersgruppe sind, die sich um die Kommunikation kümmern, wagen sich nun auch immer mehr Firmen zu TikTok vor.“ Für Unternehmen stellt TikTok eine besondere kommunikative Herausforderung dar: Einerseits will man bei einem jungen Publikum gut ankommen, andererseits darf der Auftritt das Image der Marke nicht beschädigen. Jede Peinlichkeit will vermieden werden. „Österreichische Unternehmen haben sich bis dato eher zögerlich verhalten, was die Nutzung von TikTok betrifft“, stellt Gogl fest, die selbst die Marketingabteilung der Münchner Verkehrstechnikfirma Yunex Traffic leitet. „Erst einige große Firmen, etwa Bank Austria oder willhaben.at, haben – übrigens durchaus sehenswerte – Channels eingerichtet. Ein sehr guter und erfolgreicher TikTokAuftritt ist auch dem ORF mit der ‘Zeit im Bild‘ gelungen.“

KURZ UND KNACKIG

Anders als bei YouTube oder Facebook können Unternehmen bei TikTok keine Werbeflächen kaufen, um sich einen direkten Zugang zu den Userinnen und Usern zu sichern. Der Content selbst muss die – mehr oder weniger hintergründige – Werbemessage beinhalten. Viele Firmen überlassen die kreative Werbearbeit gleich zur Gänze beliebten Influencer:innen und Influencern, indem sie für beide Seiten lukrative Kollaborationen abschließen. Ingrid Gogl sieht im Spiel mit dem Algorithmus, also mit der automatisch generierten Reihenfolge, in der Videos am Smartphone ausgespielt werden, die zentrale Challenge für sämtliche Content Creators: „Der Algorithmus von TikTok ist ein großes Geheimnis. Es gehört Mut dazu, sich als Unternehmen darauf einzulassen. Man kann aktuelle Hashtags verwenden oder populäre Musikstücke einbauen, aber es gibt keine Garantie, dass ein Video groß ausgespielt wird oder bei den Leuten gut ankommt.“ Eines sei aber gewiss: Die Inhalte müssten stets „kurz, knackig und ‚snackable‘“ sein, so die Marketingexpertin. „Das Schlüsselwort heißt: unterhaltsam. Wer auf TikTok einfach die herkömmlichen Werbebotschaften abspult, wird keinen Erfolg haben. Aber auch ‚gewollt lustige‘ Inhalte werden vom jungen Publikum schnell als Anbiederung enttarnt und fallen durch.“ Nach der Devise „Ganz oder gar nicht“ rät Gogl: „Einen TikTok-Kanal einzurichten, nur um als Unternehmen ‚auch dabei zu sein‘, bringt nichts. Man muss viel Zeit und Hirnschmalz investieren.“

„SNACKABLE“ NEWS

Eine Erkenntnis, die zurzeit auch viele österreichische Medienunternehmen gewinnen. Gerade in dieser Branche ist der Generationensprung unter den Konsumentinnen und Konsumenten eklatant: Junge Menschen lesen so gut wie keine gedruckten Tageszeitungen mehr. Und immer weniger schauen „herkömmliches“ Fernsehen. Der Medien- und vor allem der Nachrichtenkonsum findet fast ausschließlich online statt, und hier meist auf Social Media. Folgerichtig machen sich immer mehr etablierte Medien daran, junge Menschen dort zu erreichen, wo sie „zu Hause“ sind: auf TikTok, YouTube, Instagram. Ein österreichisches Medium, dem das bereits gut zu gelingen scheint, ist die Tageszeitung „Kurier“. Deren TikTok-Kanal hat seit dem Start im April 2022 bereits 38.000 Follower gesammelt. „Unsere tägliche Herausforderung ist: Wie präsentiert man News-Themen, die oft sehr ernst und komplex sind, möglichst kurz und unterhaltsam für eine junge Zielgruppe?“, sagt Caroline Bartos, eine der Redakteurinnen hinter dem TikTok-Kanal des „Kurier“: „Gleichzeitig müssen wir stets die journalistische Sorgfaltspflicht einhalten.“ Die Videos mögen kurz und prägnant sein – das bedeutet jedoch nicht, dass sie auch im Handumdrehen produziert sind. „Die journalistische Arbeit an Social Media, besonders an Kurzvideos, wird von Außenstehenden oft unterschätzt. Dabei ist der Aufwand de facto der gleiche wie für einen Artikel in der Zeitung“, erklärt Bartos. Ihre Kollegin Lena Hemetsberger, verantwortlich für alle Social-Media-Kanäle beim „Kurier“, ergänzt: „Gerade das Format des Erklärvideos, das sehr beliebt ist auf TikTok, verlangt sehr harte Arbeit am Skript, also am Ablauf und am Text. Man muss eine einfache Sprache verwenden, die möglichst viele Leute erreicht und bei der Stange hält.“

ÖSTERREICHISCHE MEDIENACCOUNTS AUF TIKTOK

ORF „ZEIT IM BILD“
@zeitimbild 365.000 Follower
KURIER
@kurier.at 38.000 Follower
DER STANDARD
@derstandard 32.000 Follower
KRONEN ZEITUNG
@krone.at 69.000 Follower
KLEINE ZEITUNG
@kleinezeitung 16.000 Follower
DIE CHEFREDAKTION
@die_chefredaktion 4.500 Follower

 

“TikTok ist mittlerweile im Mainstream angekommen.“

DATENSCHUTZ UND POLITIK

So witzig und informativ eine Runde TikTokSchauen in der Straßenbahn auch sein mag – man darf sich berechtigte Sorgen machen, wie das Unternehmen mit den Daten seiner Userinnen und User umgeht. Mehrere Medien haben in den letzten Monaten berichtet, dass TikTok auf mehr Userdaten zugreift, als für den Betrieb der App eigentlich notwendig wären. Das Unternehmen selbst hat jegliche Weitergabe von persönlichen Daten, etwa an die chinesische Regierung, jedoch stets abgestritten. Userinnen und User sollten jedenfalls auf Nummer sicher gehen und in den App-Einstellungen die Datenweitergabe möglichst einschränken.

Darüber hinaus haben in den vergangenen Jahren viele Content Creators berichtet, dass ihre Videos gelöscht oder zensiert worden seien, wenn bestimmte „sensible“ politische Begriffe vorkamen – etwa zur Situation der uigurischen Bevölkerung in China. „TikTok geht bei politischen und gewaltvollen Inhalten sehr restriktiv vor“, schildert Lena Hemetsberger ihre eigene Erfahrung. „Zum Beispiel wurde unser News-Clip über das Fischsterben im burgenländischen Zicksee gelöscht – weil die Bilder der toten Tiere für TikTok eine ‚Gewaltdarstellung‘ bedeuteten.“ Das Unternehmen habe aber eine sehr aktive Kommunikationsabteilung, fügt Hemetsberger hinzu: „TikTok steht gerade mit Medien-Channels in engem Austausch und bemüht sich um ein besseres gegenseitiges Verständnis – was man von anderen Social-Media-Unternehmen in der Form nicht gewohnt ist.“

FOTO: AdobeStock/Halfpoint